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Montag, 15. Oktober 2018

Der nächste Schritt in den Faschismus

„So viel man hat, genauso viel ist man wert“, hat János Lázár, ehemaliger Kanzleramtsminister, der heuer in Wien war und davon berichtete, wie dystopisch es dort vor lauter „Migranten“ zuginge, vor ein paar Jahren gesagt. Ab heute werden Menschen, die nichts haben, kriminalisiert. Ab 15. Oktober ist nämlich das Gesetz in Kraft, das es bei Strafe verbietet, sich „dauerhaft auf öffentlichem Grund aufzuhalten“. Razzien wurden für die kommenden Tage angekündigt.


Wer sich auf öffentlichem Grund aufhält und trotz Aufforderung diesen nicht verlässt, begeht eine Gesetzesübertretung. Als „Verlassen“ gilt die Inanspruchnahme eines Obdachlosenheims oder, wie der Gesetzgeber sich ausdrückt, wenn die Person „im Sinne der Inanspruchnahme der für obdachlose Personen bestimmten Versorgungseinrichtungen kooperiert“. Die Strafen wurden für das „Vergehen“ der Obdachlosigkeit ebenfalls angehoben, jetzt kann nicht mehr nur gemeinnütze Arbeit
János Lázárs neu gebautes Lustschlösschen
Quelle: magyar narancs
vorgeschrieben werden – wurde diese nicht durchgeführt, drohte eine Geldstrafe. Nun wird man, sollte man die gemeinnützige Arbeit ablehnen, eingesperrt.
Geldstrafen gibt es keine mehr, doch wird man innerhalb von 90 Tagen 3x beim dauerhaften Aufenthalt auf öffentlichem Grund erwischt, wird daraus ein Fall für die Justiz.

Vor zwei Wochen erweiterte man dann das Gesetz. Nun werden ab heute auch alle „nicht lagerbaren“ Habseligkeiten vernichtet, die auf öffentlicher Fläche gefunden werden. Alle Fundsachen werden demnach aufgeschrieben und geschätzt. Die „nicht lagerbaren“ vernichtet. Laut erstem Gesetzesentwurf wäre eine Entschädigung dafür bezahlt worden, von der aber wiederum die Lagerkosten und die Kosten für die Vernichtung abgezogen worden wären. Vor ein paar Tagen änderte man diesen Passus wiederum ab, demnach können nun auch Familienfotos, die sich in schlechtem Zustand befinden, persönliche Dokumente und Heilbehelfe vernichtet werden. Der Obdachlose muss aber nicht mehr für „Lagerung und Vernichtung“ bezahlen.

Die Orbán-Regierung versucht sich schon seit 2011 am Verbot der Obdachlosigkeit. Der Verfassungsgerichtshof erklärte das erste Gesetz jedoch 2012 für verfassungswidrig. Die Stadt Budapest versuchte ebenfalls die Obdachlosigkeit zu verbieten (hier war der Fidesz-Bürgermeister des 8. Budapester Gemeindebezirks Vorreiter), dieses Gesetz wurde wiederum für nichtig erklärt. Es gab einen weiteren Fall, die Stadt Kaposvár versuchte sich am selben Verbot.
Heuer aber wurde auf Antrag des Fidesz-Abgeordneten István Bajkai die Verfassung dahingehend abgeändert, dass man sich nicht mehr „dauerhaft auf öffentlicher Fläche aufhalten darf“.

Morgen und übermorgen stehen große Razzien an, die Obdachlosen sollen aus den Innenstadtbezirken vertrieben werden und möglicherweise werden auch die Obdachlosensiedlungen in den Wäldern der Außenbezirke geräumt.
Die Budapest Bike Maffia, die sich die Versorgung von Obdachlosen zur Aufgabe gemacht hat, hat in den letzten Tagen einen Leitfaden unter anderem mit Adressen von Obdachlosenheimen verteilt, damit alle entsprechende Informationen erhalten.

Einige „Bonmots“ zur Obdachlosigkeit von Politikern in Entscheidungspositionen, wollen wir unseren Lesern auch nicht vorenthalten. Bereits erwähnter István Bajkai (der sich seinen Platz im Parlament dadurch verdiente, dass er einige Jahre lang der Rechtsanwalt der Familie Orbán gewesen ist) erklärte seinen Initiativantrag zur Aufnahme des Obdachlosigkeitsverbots in die Verfassung
Die Budapest Bike Maffia in Action
Quelle: index.hu
folgendermaßen: „Unter uns gesagt, machen die Obdachlosen es einem sehr schwer, die Stadt [Budapest] als Zuhause zu sehen.“ Außerdem sei Budapest nicht nur einfach ein Zuhause, sondern das geistige, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Ungarns, ja des gesamten Karpatenbeckens.
Atilla Fülöp, Staatssekretär für Soziales und Gesellschaftsentwicklung meinte: „Das abgeänderte Gesetz ist im Interesse der gesamten Gesellschaft und der Zweck ist, dass keine Obdachlosen auf den Straßen schlafen und die Bürger ungestört die öffentlichen Flächen benützen können.“ Insgesamt würden 950 Mio. Forint (ca. 3 Mio. Euro!) für die Versorgung der Obdachlosen im ganzen Land ausgegeben, da die „Gesichtspunkte der Menschlichkeit“ für die Regierung sehr wichtig seien.
Derzeit gibt es laut Schätzungen von NROs rund 30.000 Obdachlose in Ungarn für die ca. 11.000 Plätze zur Verfügung stehen.
István Tarlós, Budapester Oberbürgermeister, meinte heuer im Zusammenhang mit der Obdachlosigkeit, dass niemand in Budapest im Freien schlafen müsse, weil er keinen Platz in den Unterkünften finde.
Orbáns Ex-Rechtsanwalt, der schon erwähnte Bajnai, meinte noch im Juni, dass heute in Ungarn alle Voraussetzungen gegeben seien, dass man nicht obdachlos sein müsse. Es gebe viele Unterstützungen von Seiten des Staates und der Gemeinden, eine „riesige Zahl an Unterkünften“, die Tag und Nacht geöffnet seien, außerdem „ein außerordentlich erfolgreiches Arbeitsprogramm der Regierung. Jeder Obdachlose könnte arbeiten gehen und mit dem Verdienst sein Leben in Griff bekommen und für eine eigene Unterkunft sorgen.“ 
[81.530 HUF (263 EUR brutto) ist der Verdienst pro Monat, die Wartelisten für das Arbeitsprogramm sind lang.]


Dienstag, 28. Februar 2017

Er ist wieder da

Die ethnische Homogenität müsse gewahrt werden, selbst die Putzfrau solle Ungarin sein und es werde zurückgeschlagen, sollten ungarische Arbeitnehmer im Ausland schlecht behandelt werden. Diese Zukunft zeichnete Viktor Orbán bei der heutigen Eröffnung des Geschäftsjahres der Ungarischen Kammer für Handel und Industrie.

Die Lage sei nicht gut, aber ermutigend, meinte Orbán heute bei der Ungarischen Handelskammer. Derzeit gebe es keine großen Fehler in der Wirtschaftspolitik, aber schlechter könne es immer noch werden. Die Falle, in der die mittelmäßig entwickelten Länder steckten - das Problem, dass man nicht schlecht dastehe, aber zu den entwickeltsten Ländern nicht aufschließen können -, bedrohe auch Ungarn. Wenn Ungarn alles so weitermache wie im letzten Jahr, sei das nicht genug, erklärte Orbán.

Weiters gab Orbán zu verstehen, dass "die ethnische Homogenität gewahrt bleiben muss", weil die "übertriebene Vermischung zu Problemen führt". Er halte auch die "kulturelle Einfärbigkeit" für wichtig, die "innerhalb einer Bandbreite kulturelle Buntheit bedeutet".
Wenn jemand durch Ungarn reise, sehe er, dass hier ein Kulturvolk lebt, das auf seine Umwelt achtet. Vielleicht sehe man das in Budapest nicht so deutlich, meinte er, doch sei das auf dem Land besonders wichtig.
Quelle: magyarnarancs.hu

Wichtig sei auch, dass in Ungarn ungarische Menschen die Arbeit verrichteten. Für manche sei es nicht wichtig, dass auch die Putzfrau Ungarin sei.
Orbán erklärte, dass man das Wachstum des BIP, das zwischen 3-5 % liege, "verteidigen" und nach 2020 ein Wachstum über 5 % erreichen müsse.


"Ohne große Taten werden wir das Feld der mittelmäßig entwickelten Länder nie hinter uns lassen", meinte Orbán. Diese "großen Taten" seien der Ausbau der Bahnlinie Budapest-Belgrad bzw. die Erweiterung des Atomkraftwerks Paks. Es sei kein Zufall, dass man diese Projekte aus dem Ausland zu verhindern versuche.
Das niedrige ungarische Steuerniveau (sic!) gefalle anderen Staaten genauso wenig, in diesem Zusammenhang sei vor allem Österreich zu erwähnen.
Wenn im Ausland ungarische Arbeitnehmer diskriminiert würden, werde Ungarn ähnliche Schritte unternehmen, versprach Orbán.

Orbán erwähnte auch das Bedingungslose Grundeinkommen: Würde es in Ungarn eingeführt, könnten alle Unternehmen zusperren. Ungarn habe keine Möglichkeit, ohne Leistung und Arbeit Geld zu verteilen, auch weil "die ethnischen Verhältnisse kompliziert" seien. [Das bezog sich ganz klar auf die "faulen" Roma.]

Von besonderer Wichtigkeit sei auch billige Energie für ungarische Unternehmen. Diese könnte laut heutigem Wissensstand nur in Atomkraftwerken hergestellt werden.
[Er ist wieder da.]


Quelle: http://hvg.hu/gazdasag/20170228_Orban_a_tul_nagy_keveredes_bajjal_jar
http://magyarnarancs.hu/villamnarancs/orban-viktor-szerint-etnikai-okokbol-elkepzelhetetlen-az-alapjovedelem-102706

Donnerstag, 8. Oktober 2015

„Wir stehen hilflos hier herum“

Dieser Artikel ist im Jahr 2012 in der Wochenzeitung Magyar Narancs erschienen, hat aber nichts an Aktualität eingebüßt. Der Lohn für das Arbeitsprogramm beträgt heute 50.632 HUF (162 €, also weniger als vor 3 Jahren).


Armut in Battonya
Wie viele Menschen können denn wie lange von den 47.000 HUF (165€) leben, die es beim staatlichen Arbeitsprogramm gibt?

„Zweihundert, zweihundertfünfzig, dreihundertzwanzig, dreihundertdreißig, dreihundertfünfunddreißig.“ János Lázár zählt am letzten Samstag des Oktobers Münzen auf den Tisch. So viel Geld ist für seine siebenköpfige Familie noch übrig. Der muskulöse und bestimmte Mittfünfziger meint, dass sie mit diesen Geld, das für ein wenig mehr als ein Kilo Brot reicht, bis Montag irgendwie auskommen müssten: Dann kommt der nächste Wochenlohn vom staatlichen Arbeitsprogramm, das von manchen auch Arbeitsdienst genannt wird.(1) Dieser geht aber für die Schulden drauf, die die Familie bei einem Lebensmittelladen im Ort hat, wo man noch anschreiben lassen kann.

János Lázár und seine Familie gehören zu den Glücklicheren im von tausend Problemen gebeutelten Südosten des Landes, im Städtchen Battonya, das im Komitat Békés, unweit der rumänischen Grenze liegt. Wenn auch nur bis 31. Oktober, so war er doch im Arbeitsdienst, dafür erhielt er monatlich 47.000 HUF (165€), die in wöchentlichen Raten ausbezahlt wurden. Außerdem schloss er eine Trennungsvereinbarung mit seiner Gattin, die dadurch ebenfalls berechtigt ist, am staatlichen Arbeitsprogramm teilzunehmen. Die andere Einkommensquelle der Familie sind die 47.000 HUF (165€) der Frau, zu denen noch die erhöhte Familienbeihilfe, 51.000 HUF (180€), für die vier Kinder kommt. So haben sie zu sechst, manchmal zu siebt 145.000 HUF (512€) zur Verfügung. (Eines der Kinder der Familie Lázár ist schon volljährig.)

 

Kein Wasser, kein Gas, kein Strom

„Wenn wir diese Summe durch sechs teilen, haben wir 24.000, wenn durch sieben, ein bisschen mehr als 20.000 Forint (70€) pro Kopf für einen Monat. Wenn wir auch auf fast alles verzichten müssen, irgendwie geht es sich aus – doch wer weiß, wie lange noch“, meint Lázár.

Rund ums Haus herrscht Ordnung. Im Garten an mehreren Stellen Holzscheite, Wurzelstöcke, Äste feinsäuberlich aufgeschlichtet. Der Winter steht vor der Tür. Über ein Hilfsprogramm der Regierung hat die Familie ein paar Schafe und ein Dutzend Hühner bekommen. Auf unser Kommen hin haben sich alle in der Küche versammelt, wo der Sparherd für Wärme sorgt. Die Stimmung ist traurig, aber nicht hoffnungslos. Die Hoffnung hat natürlich genaue Grenzen, zurzeit weiß man noch nicht, woher man die 20.000 Forint nehmen soll für die nahe Schulabschlussfeier einer der Töchter.
János Lázár und seine Frau


Der Mann kann mit seiner Frau gemeinsam am Arbeitsprogramm teilnehmen, weil sie nicht in einem Haushalt leben. „Das heißt natürlich nicht, dass ich nicht oft mal hier wäre“, sagt János Lázár mit einem verschmitzten Lächeln, das in lautes Lachen übergeht.

Unsere Begleiterin heißt Boros Györgyné, die Battonyaer Leiterin des Vereins für Arme und Großfamilien, sie arbeitet ebenfalls im staatlichen Beschäftigungsprogramm. Von ihr erfahren wir, dass in Battonya, das ständig an Einwohnern verliert und mit großer Armut zu kämpfen hat, wegen der hohen Ausstände der Gasversorger schon bei 300-400 Familien das Gas abgedreht hat. (Bei vielen gibt es auch keinen Strom und kein Wasser mehr.) Viele können sich kaum Brennholz leisten. Borosné erzählt, als sie in ihrem derzeitigen Arbeitsbereich zu arbeiten begann, wollte sie einfach helfen und dachte, dass die Betreuung der Familien einfach nur Arbeit sei. Seitdem hat sie gelernt, dass es um viel mehr geht. Viele empfinden ihre Armut immer noch als Schande. Es gibt natürlich zahlreiche Beispiele dafür, dass manche auch vor Diebstahl nicht zurückschrecken, wegen dem sie dann einige Zeit hinter Gitter verbringen müssen. Dabei sind die Dinge anders, als sie scheinen. Hinter den auffällig ungeschickt ausgeführten Diebstählen steckt meistens eine wohl durchdachte Überlebensstrategie: Sitzt man im Gefängnis, hat man im Winter keine Sorge mit dem Essen und dem Heizen.

Es gibt aber auch noch viel verzweifeltere Lebenssituationen: Im Ort gibt es eine Frau, die schon einige Zeit droht, sich aufzuhängen, weil sie „wenn die Zeit gekommen ist“, nicht zusehen will, wie ihre Kinder hungern und frieren. „Wir können nur zu wenigen Familien gehen, weil die meisten weder ihr Gesicht noch ihren Namen für so einen Bericht hergeben wollen. Außerdem kommen dauernd irgendwelche Journalisten, unsere Lage ändert sich aber nicht“, sagt sie verbittert. Man könne sich an die regelmäßige Konfrontation mit der unvorstellbaren Armut nicht gewöhnen, meint die Vereinsvorsitzende. „Ich werde damit nicht fertig. Wenn ich nach Hause komme, kann ich mein Hirn nicht abschalten. Wenn eine Familie nicht nur das gesammelte Holz und Äste verbrennt, sondern auch die Möbel, die sie nicht mehr unbedingt braucht, dann ist das schon eines der letzten Stadien“, erklärt unsere Begleiterin. Und viele befinden sich hier im „finanziellen Hamsterrad“, weil sie seit Jahren die einfachsten Grundnahrungsmittel nur mehr auf Pump kaufen können.

Waschsalon

Im sozialen Waschsalon funktioniert nur mehr eine Waschmaschine. Vor vier Jahren wurde er mit vier Maschinen eröffnet. Davon hatte zwei der Bürgermeister, der im ganzen Land als Weizenverbrenner und Rabauke bekannt ist, der sozialistische Parlamentsabgeordnete József Karsai, gekauft, zwei wurden gespendet.
„Die Kindergärtnerinnen und Volksschullehrerinnen haben diesen Waschsalon angeregt. Sie sagten, dass viele der Kinder in ganz dreckigen Kleidern in den Kindergarten und die Schule kämen, weil es zuhause weder Strom, noch Wasser, noch Reinigungsmittel gebe, und eine Waschmaschine hätten sie überhaupt noch nie gesehen. Diese Kinder wurden von ihren Mitschülern dauernd verspottet. Der Waschsalon ist den ganzen Tag geöffnet, er dient auch als Treffpunkt, wo jene, denen es finanziell ein wenig besser geht, übertragene Kleider und Schuhe abgeben. Eine große Kaufhauskette hat kürzlich Restposten hierher gebracht. Die gute Absicht muss man loben, die Armen hier in Battonya können aber mit Stöckelschuhen nicht viel anfangen.“

Battonya war jener ungarische Ort, der von der Roten Armee als erster „befreit“ wurde, das geschah im Oktober 1944. Der Tiefflug der Region begann nach der Wende. Dutzende Betriebe gingen bankrott, die LPGs wurden aufgelöst, kaum ein Arbeitsplatz blieb übrig. Das Städtchen ist von fruchtbaren Feldern umgeben, doch es gibt keine Maschinen, außerdem steckt die ungarische Landwirtschaft als Ganzes in der Krise, ergo gibt es wenige Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und auch nach Tagelöhnern herrscht weit nicht so großer Bedarf, wie Hände zur Verfügung stünden.

Die Menschen sind an die Scholle gebunden, sie haben keine Möglichkeit in den „wohlhabenderen“ Regionen des Landes oder gar im Ausland zu arbeiten. Daran hindern sie nicht nur der Mangel an einer entsprechende Ausbildung oder an Sprachkenntnissen. Für so einen Schritt, für den Umzug, müssten sie ihre Häuser verkaufen. Hier Immobilien zu verkaufen, ist praktisch unmöglich. Deshalb bleiben sie hier.

Gegen die absolute Armut hilft auch das staatliche Arbeitsprogramm nicht. Hier gilt das gleiche wie bei den Tagelöhnern: Die Nachfrage und das Angebot sind im Ungleichgewicht. Auf die eigenartigen Vorschriften im Zusammenhang mit dem Arbeitsprogramm reagieren die Menschen hier und anderswo im Land auf ihre eigene Art. In einer Familie kann nur eine Person am Arbeitsprogramm teilnehmen. Warum das so ist, kann hier keiner beantworten. (Hier wäre es nun geschmacklos, wenn wir uns auch nur auf ironische Weise mit der Hirnverbranntheit beschäftigen würden, ob man nun von 47.000 HUF leben kann oder nicht, oder ob „jemand, der es zu nichts gebracht hat, auch nichts wert ist“.)(2)
In Battonya ließen sich ausschließlich deswegen zahlreiche Ehepaare scheiden. Auf dem Papier. Es gibt Ehepaare wie die Lázárs, die eine Trennungsvereinbarung geschlossen haben. Nachdem in Battonya am 1. November das Arbeitsprogramm eingestellt wird, sinkt das Monatseinkommen in den Wintermonaten, gerade da würden alle mehr Geld benötigen, auf das Minimalniveau von 22.000 HUF (78 Euro). Die Folgen sind nicht schwer zu erraten.

„Viele Ehen und Beziehungen zerbrechen vor meinen Augen wegen der Armut und der finanziellen Aussichtslosigkeit. Am meisten nimmt mich aber die Lage der Kinder mit. Sie können nichts dafür, dass ihr Vater trinkt und auch dafür nicht, dass ihre Eltern schon seit Jahren keine Arbeit mehr haben“, erzählt Boros Györgyné. Sie führt uns dann auf einen kleinen Einödhof in der Nähe von Battonya, wo János Mong aus Großzügigkeit des Besitzers mit seiner kleinen Tochter wohnen darf. Er versorgt dafür die Schafe. Wir befinden uns auf dem flachen Land zwischen Battonya und der rumänische Grenze, auf einem rumpeligen Feldweg sind wir hierher gekommen.


Kinder unter der Tuchent

János Mong ist Ende Dreißig und in einem Waisenhaus groß geworden. Er hat drei Berufe gelernt - Bäcker, Konditor und Kellner, doch arbeitet er auch längere Zeit in einem Greißlerei und in einem Schnellimbiss. Dennoch findet er keine Arbeit. Er kann sich nur im Arbeitsprogramm um 47.000 HUF verdingen. Dazu kommt die Kinderbeihilfe, und wenn er hier und dort mal jemandem zur Hand geht, kriegt er auch einmal ein, zwei Tausender. Als Rausschmeißer kam er mit dem Gesetz in Konflikt und saß deswegen auch im Gefängnis, dann war da noch eine dreieinhalb Jahre dauernde schreckliche Ehe. Seine Ex-Frau hält weder mit ihm noch mit ihrer gescheiten und interessierten Tochter den Kontakt.

Der große Plan in Mongs Leben ist, wie er uns erzählt, mit fünf Jahren intensiver Arbeit sich 300.000-400.000 HUF (1.000-1.500€) zu ersparen, damit er dann in der Stadt Battonya ein baufälliges Haus kaufen kann, in dem er und seine Tochter Bogi wohnen werden. „Ich kann alles selber machen, wir richten uns das nach und nach her“, sagt der alleinerziehende Vater, der in diesen Wochen alles brennbare in der Umgebung für den Winter einsammelt. Er weinte das letzte Mal, als er „in Bogis Klasse am Muttertag bei der Feier war, die die Kinder vorbereitet hatten“, sagt János Mong.

Der Mann steht jeden Morgen um halb vier auf, versorgt die Schafe und weckt um dreiviertel sechs dann Bogi, mit der er nach dem Frühstück, um halb sieben, in die Schule aufbricht. Der Mann bete, wie er sagt, oft, dass Bogi nicht krank werde. „Viele kommen schon mal nachschauen, manchmal helfen sie mir auch, aber wovon ich Medikamente kaufen sollte, weiß ich nicht.“ Zum Abschied meint er: Er würde gern nach Westungarn gehen, um dort zu leben und zu arbeiten, aber das Geld dafür könne er niemals aufbringen.

„Wir stehen hilflos hier herum, die Gemeinde hat kein Geld, inmitten von so viel Armut zu leben, ist wirklich eine seelische Heimsuchung“, sagt József Karsai der Magyar Narancs gegenüber. Er hat in den vergangenen Jahren aus eigener Tasche Millionen für die Armen im Ort, in erster Linie für die Kinder, ausgegeben. Karsai erzählt von einem Invalidenpensionisten, der zur Monatsmitte normalerweise nur mehr 40 HUF (0,15€) in der Tasche hat, und einer Großfamilie, in der ab Herbst die 11 Kinder die meiste Zeit des Tages unter einer Tuchent verbringen, weil die Familie kein Geld fürs Heizen hat. Und so frieren die Kinder nicht. Und er erzählt davon, dass die Kinder der armen Familien am Montag immer ausgehungert in die Schule kommen, weil es zuhause kaum etwas zu essen gibt.

„Bei einer Familie kauerten die Kinder unter einer Tuchent. Ich fragt sie, wo der Überzug ist. Sie antworteten, es gibt doch keinen Zug, Onkel Jóska, wir haben doch die Türe zugemacht! Da wurde mir klar, dass diese armen Kinder nicht einmal wussten, was Bettwäsche ist. Einige können sich nur in der Schule ordentlich waschen, weil es zuhause kein Warmwasser gibt. Eine Zeit lang haben wir nicht verstanden, warum sie das nicht machen. Dann bemerkten wir, dass keines der Kinder ein Handtuch hatte. Ich kaufte dann dreihundert Stück für die Schule“, so bringt Karsai eine Horrorgeschichte zu Ende, die hier alltäglich ist. „Ein Wohlhabender wird nie verstehen, wie es ist, arm zu sein. Wie es ist zu hungern Tag für Tag und zu frieren, völlig ausgeliefert zu sein. Wer das nicht mit eigenen Augen sieht, weiß nicht, was Armut heißt. Früher gab es hier 130 arme Familien, heute sind es 300-350, am ärmsten sind jene Kinder, die ständig auch auf die grundlegendsten Sachen verzichten müssen. Ich will nicht übertreiben. Aber das hier bei uns ist schon bald wie in Afrika.“


Übersetzung: Clemens Prinz 2012

Verfasser: Tamás Bod
Veröffentlicht in: Magyar Narancs 2012/47. (22. November 2012)

http://magyarnarancs.hu/kismagyarorszag/tehetetlenul-allunk-82592


(1) közmunka-program: Eine Art verpflichtender Arbeitsdienst, der absolviert werden muss, will man nicht völlig von jedweder Sozialhilfe abfallen. Es sind stupide Arbeiten zu erledigen, Unternehmer können die Arbeiter auch für ein geringes Entgelt mieten. Für die Zeit, in der das Programm läuft – meistens nur in der warmen Zeit, da laut Arbeitsgesetzbuch im Winter Wärmeräume, entsprechende Kleidung zur Verfügung gestellt werden müsste –, erhalten die (Zwangs)Beschäftigten 47.000 HUF (165€) pro Monat, in den restlichen Monaten 22.000 HUF (78€).


(2) Der ehemalige ungarische Wirtschaftsminister György Matolcsy (heute Nationalbankchef) ließ dereinst mit der Aussage aufhorchen, dass man von 47.000 HUF im Monat locker Leben könne, Marcell Zsiga, Fidesz-Jungspund wiederholte diese Aussage. (http://youtu.be/ZxzoS4tPKmk)
Dass jemand, der es zu nichts gebracht hat, auch nichts wert sei, sagte der Clubchef des Fidesz, János Lázár, in seiner Funktion als Bürgermeister von Hódmezővásárhely. (http://www.vg.hu/kozelet/politika/lazar-janos-aki-semmire-nem-vitte-az-annyit-is-er-343756)