Viele werden sich denken, wie in Ungarn möglich ist, was dort geschieht. Das Ganze hat etwas mit der Volksseele zu tun, die es ja objektiv gesehen - so sagt es uns die Wissenschaft - nicht gibt. Gut. Dann halten wir uns an Narrativa, Traditionen und Hierarchien, die immer wieder bekräftigt, gestärkt und wachgerufen werden.
György Faludy (1910-2006) hat in seinem Buch
Meine heiteren Tage in der Hölle für jeden verständlich zusammengefasst, was der Grund dafür ist, dass es in Ungarn so ist, wie es ist und solange nicht eine große Menge an im Ausland sozialisierten Ungarn irgendwann mal in die "alte Heimat" zurückkehrt, sich auch nichts ändern wird.
György Faludy: Der Ungarische Globus
Ich wusste, dass sich für so altmodische
Kennenlernreisen der europäischen Länder das 1938er Jahr und die
nachfolgenden kaum eignen und meine finanziellen Mittel solcherlei
ohnehin nicht zulassen würden. Ich konnte mich, wenn ich schon
emigrieren musste, damit trösten, dass ich eine Reise machen würde, nach
der ich mich im Geheimen so oft gesehnt hatte. Ja, ich kannte Paris,
wenn auch die Pariser nicht. Ich wusste, dass es Krieg geben würde. Und
obwohl ich mich darauf vorbreitete, dass vor dem Krieg Paris mein
Wohnort sein würde, ich während des Krieges mit der französischen Armee
herumzöge, ahnte ich irgendwie: All das ist weit nicht so einfach und
meine Emigration würde wohl auch nicht an den Ufern der Seine enden. Ich
wusste schon, echte Emigration ist stets eine erzwungene Flucht. Dazu
braucht es kein Geld. Zu Fuß oder auf dem Dach eines Zuges, auf einem
Pferdewagen oder tief im Bauch eines Schiffes, aber wenigstens
umsonst. Der fünfte Grund für meine Emigration ist das Reziproke des
vorherigen und ergibt sich automatisch aus diesem. Gegensätzliche Kräfte
zerrten an mir, ich wurde von Ungarn angezogen und abgestoßen. Ich
wollte bis zum meinem Tod in Budapest leben und war glücklich, dass ich
von dort fort kam;
es war für mich ganz natürlich, dass ich als Ungar
geboren war, ich war stolz darauf und gleichzeitig verfluchte ich meine
Herkunft. Hier denke ich an viel gewichtigere als die politischen
Gründe. Daran, was Endre Ady als ungarische Brache bezeichnet hatte, und
all sein Zubehör bzw. an den chronischen ungarischen Provinzialismus.
Dieser wurde nicht von Ady entdeckt: Neben einigen unserer Dichter
wussten auch István Széchenyi, József Eötvös, Zsigmond Kemény, László
Szalay, Oszkár Jászi, Rusztem Vámbéry und andere, was für ein
Schicksalsschlag dieser Provinzialismus war. Antal Szerb nannte ihn in
der ihm eigenen Sanftheit „ungarischer Finitismus“. Darunter verstand
er, dass wir die wesentlichen Fragen nicht gerne stellen, und unsere
Antworten nicht im Vorhinein durchdenken.Im 19. und in den ersten vier
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war das Grundelement der ernsthafteren
Konversation Tratsch und Anekdote. Wenn es dazu kam, rückten alle ihre
Stühle näher und waren ganz Ohr. Warf jemand philosophische oder
ethische Fragen auf, begannen die Zuhörer sich nach und zu entfernen.
Unser Ungarischsein, unsere Geschichte, ja die Kritik am menschlichen
Sein wurde gleich als Landesverrat gesehen. Als ich mich nach
Weihnachten des Jahres 1938 in den Zug nach Paris setze, wiegte sich die
ungarische Öffentlichkeit nicht nur im Traum, Ungarn wäre eine
Großmacht, sondern sie war sich dessen sicher. Keiner nahm zur Kenntnis,
dass unsere „Große Nation“ 413 Jahre zuvor bei Mohács ihr Ende gefunden
hatte, wie Károly Kisfaludy in seinem besten Gedicht das so
unmissverständlich niedergeschrieben hatte. Der Ausdruck „Ungarischer
Globus“ verdeutlicht diesen Provinzialismus wohl am besten: Unser
Horizont reichte nur bis an die ungarische Grenze und nicht weiter.
Diese Weltsicht äußert sich in jedem kleinen Detail des ungarischen
Lebens, auch in der Literatur. Ich war immer verzweifelt, warum man denn
die besten Sprossen unserer Literatur nicht ins Englische,
Französische, Deutsche, Italienische übersetzte, und wenn doch, warum
man sie nicht würdigte. All das führte ich auf die Gleichgültigkeit des
Westens zurück und darauf, dass unsere Sprache der indoeuropäischen
Sprachfamilie so fern ist. Erst in den fünf Jahren, die ich an
ausländischen Universitäten verbrachte, verstand ich langsam, dass mein
Denken von der ungarischen Umgebung und Erziehung geprägt war. Erst da
merkte ich, dass mein Liebling und Meister der Sprachschönheit, Toldi
von Arany auch in der bestmöglichen Übersetzung nur ein verspätetes Epos
über einen starken und dummen Menschen ist, dessen Schicksal im Westen
des 20. Jahrhunderts niemanden interessierte, oder ein anderes
Lieblingsgedicht von mir – Sándor Petőfis „Szeptember végén“ – für den
westlichen Leser höchstens ein sentimentaler Schmus von einem Toten ist,
der aus dem Grab steigt, um sich den Schleier zu holen, den seine Witwe
an sein Grabkreuz gehängt hat.Ich ahnte, dass ich noch weiter gehen
müsste. Mir tat immer irgendwie weh, dass ich im Westen ständig mit
Erfolgen von Franz Molnár, der die Bühnentechniken großartig einsetzte,
davon abgesehen aber leichte und oberflächliche Stücke schrieb,
konfrontiert wurde, unsere wirklich großen Schriftsteller aber niemand
kannte. Irgendwie spürte ich schon den Grund dafür – Franz Molnár ist
zwar nicht viel wert, aber er ist nicht provinziell, während der
Großteil unserer Genies sich nur auf dem „ungarischen Globus“ und nicht
innerhalb der Grenzen Europas bewegt, also provinziell ist. Der
ausländische Leser muss die ungarische Geschichte kennen und die
ungarischen Verhältnisse, um ihre Werke genießen zu können. Ich hielt
das für ganz natürlich, bis einige ausländische Freunde mich aufklärten:
Um Richard III. zu verstehen, muss man sich in der englischen
Geschichte nicht auskennen und bei Krieg und Frieden muss man nichts
über die Napoleonischen Kriege wissen. Die Tragödie des Menschen ist
eine Ausnahme; doch die meisten Gedichte von Petőfi, Jókai, Mikszáth, ja
der Großteil von Zsigmond Móriczens Büchern – z. B. gerade sein Buch
„Siebenbürgen“ – ist, ohne die ungarischen Verhältnisse und die
ungarische Geschichte gründlich zu kennen, unverständlich. Wenn
vielleicht auch ungewollt, wurden all diese Werke für den
Inlandsgebrauch gemacht. Den Vers von Verlaine: „Dans l’interminable/
Ennui de la plaine/ La neige incertaine/ Luit comme du sable” – kann man
in jede Sprache übersetzen, diese Zeile: „Ég a napmelegtől a kopár szík
sarja”, in keine andere Sprache der Welt. Mit Dezső Kosztolányi, Attila
József und Frigyes Karinthy waren rasch nacheinander jene drei Autoren
gestorben, die ich am meisten schätzte, doch ich fühlte – wie andere
auch –, dass mit ihrem Tod ein Zeitalter zu Ende ging und von der
unmittelbaren Zukunft nicht viel Gutes zu erwarten war. Schon deshalb
nicht, weil plötzlich der Kampf der volkstümlichen und urbanen
Schriftsteller an der Tagesordnung war, etwas, was ich schon immer
ungarische Schizophrenie nannte, und wovon ich mich so fern zu halten
versuchte, wie nur irgend möglich. Und wenn ich an die Worte des
englischen Abgeordneten dachte, plagte mich das schlechte Gewissen nicht
mehr wie früher: dass ich vor einem Kampf davonlaufen würde. Ich floh
von einem Schlachtfeld, auf dem meine Gegner bis über die Zähne
bewaffnet aufmarschierten, mir aber keine einzige Waffe geblieben war.
Ich will ja nur lernen, tröstete ich mich, und dann, eines Tages, mit
mehr Wissen in ein neues, besseres Ungarn zurückkehren.
Aus György Faludy: Pokolbéli víg napjaim (Meine heiteren Tage in der Hölle)
Aus dem Ungarischen von Clemens Prinz
György Faludy war einer der letzten Großen der ungarischen
Zwischenkriegsliteratur, einer, der Kosztolányi, Attila József, Karinthy
persönlich gekannt hatte. Er bereiste ganz Europa, studierte in Wien,
Graz, Berlin (wo er Einstein kennenlernte). Seiner jüdischen Abstammung
wegen ging er 1938 nach Paris, dann in die USA. 1946 kehrte er nach
Ungarn zurück, wo er bald von den Kommunisten verfolgt und für drei
Jahre interniert wurde. 1956 flüchtete er, ließ sich in London nieder,
ging dann nach Kanada. Erst 1989 kehrte er erneut nach Ungarn zurück.
Faludy
ist besonders für seine Übersetzungen und Bearbeitungen bekannt
(Villon, Pantagruel, antike Literatur) und sein dichterisches Schaffen.
Bei seiner Beerdigung war trotz seiner Wichtigkeit für das ungarische literarische Leben niemand von Fidesz anwesend. Faludy hatte nämlich in einem seiner späten Gedichte gemeint, er könnte Orbán nicht ausstehen (dieser wurde aber namentlich nicht erwähnt). Zur Beerdigung von Tony Curtis, dem Sohn ungarischer Einwanderer, wurde eine (Fidesz-)Regierungsdelegation in die USA geschickt.