von Gabi Valaczkay
„So etwas kommt hier vor“, wirft Piroska ein,
eine ungarische Frau mit weißem Kopftuch und dicken Armen, sie arbeitet in der
Schulküche. In diesem Satz schwingt dieses bestimmte „Was-wisst-ihr-denn-in-Budapest-schon-vom-Leben“
mit. Piroska schleppt eine Schachtel mit
Lebensmitteln, in ihr sind
Mehl, Salz, Backpulver, Schmalz. Die Zutaten für das Essen der Ärmsten, das „Bodag“ heißt,
Zigeunerbrot.
„Am Ende des Monats haben die Familien nicht
einmal mehr eine Handvoll Mehl. Dann kriegen die Kinder wirklich nur mehr das
zu essen, was wir ihnen hier in der Kantine ausgeben.“
Quelle: http://www.sajto-foto.hu/en/2013/ kepek/dorko-daniel-fotoi/tarnabod_2 |
„Dominik hat den ganzen letzten Sommer an
einer Hundekette verbracht“, erzählt der Direktor und deutet mit dem Kopf in
Richtung eines Romajungen mit lammfrommen Blick. „Seine Eltern meinen, er sei
sehr schlimm gewesen. Man musste ihn Mores lehren, meinten sie.“ Imre Maszlag,
der Schuldirektor des Ortes Tarnabod in Nordungarn, hat den Blick gesenkt, als
würde er sich selbst für diesen Fall schämen. Wir befinden uns eine Autostunde
von Budapest, in einem Dorf mit 850 Einwohnern. In das Dorf führt eine Straße
hinein, aber keine heraus und 95 % der Bevölkerung sind Roma, die Hälfte
davon Kinder. Von den ungarischen Maltesern wird hier ein Demontagebetrieb für
Elektronik betrieben, in dem 30 Leute Arbeit finden. Doch gibt es keinen Arzt,
der täglich ordiniert, keine Apotheke und auch keinen Linienbus. Und auch Arbeit
gibt es weit und breit keine. Die vier-, acht-, ja manchmal zehnköpfigen
Familien leben von Kindergeld und Sozialhilfe.
Während die kleinen
Schüler nach der Pausenglocke auf den Schulhof laufen, der einem Schlammmeer
gleicht, macht Laci, der Hausmeister, beide Flügel des Schultores auf, damit
der Kleinbus aus Budapest, vollgepackt mit Hilfsgütern, hereinrollen kann. Der
Mittelpunkt dieses Dorfes ist nicht das Bürgermeisteramt, sondern die Schule.
Hier hat nicht der Bürgermeister das Sagen, sondern der „maltesische“ Direktor.
Eine der wichtigsten Aufgaben von Imre Maszlag ist die gerechte Verteilung der
Hilfsgüter, die ins Dorf kommen.
Ein Gramm mehr...
„So studierte Leute aus Budapest. Sie schicken
immer Essen und Gewand. Letzten Winter haben sie auch Antibiotika organisiert
und eine Waschmaschine für eine der Familien mit zehn Kindern, die Molnárs.
Mein Kollege wird sie nachher dann zu ihnen begleiten, damit sie die
Verhältnisse hier sehen. Zuerst laden wir aber schnell das Auto aus. Wenn wir
in der Lieferung haltbare Lebensmittel, die wir nicht in 110 gleiche Teile
teilen können, finden, legen wir sie zur Seite. Würde nämlich eine der
bedürftigeren Familien auch nur ein Gramm mehr bekommen als eine andere, würde
hier sofort eine Palastrevolution ausbrechen“, erklärt der junge Direktor und
Vater. Seitdem er in Tarnabod arbeitet, schickt er jeden Tag ein Dankgebet gen
Himmel, dass sein Sohn in der nahen Kleinstadt Eger aufwachsen kann: im Warmen,
mit sauberen Kleidern, Gutenachtgeschichten, wohl genährt.
Die Kinder von Tarnabod leiden die meiste Zeit
des Jahres Hunger. Das wusste ich schon, bevor ich einen Fuß in dieses Dorf
gesetzt hatte. Das ist auf der Homepage des Malteser Hilfsdienstes zu lesen.
Der Direktor hatte mich darauf auch telefonisch vorbereitet. Dass ich so ein
Elend noch nicht gesehen hätte. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit welchem
Blick die Kindergartenkinder in der Früh um neun nach dem Butterbrot greifen.
Sie haben seit dem Vortag um vier Nachmittag nichts mehr gegessen.
Zigeunerbrot
„So etwas kommt hier vor“, wirft Piroska ein,
eine ungarische Frau mit weißen Kopftuch und dicken Armen, sie arbeitet in der
Schulküche. In diesem Satz schwingt dieses bestimmte „Was-wisst-ihr-denn-in-Budapest-schon-vom-Leben“
mit. Eher Verbitterung als Wut. Piroska schleppt gerade eine Schachtel mit
Lebensmitteln aus dem Kleinbus hinein. Sie kann sie kaum tragen. In ihr sind
Mehl, Salz, Backpulver, Schmalz. Die Zutaten für das Essen der Ärmsten, das Bodag heißt. Man nennt es auch
Zigeunerbrot, das Geheimnis der Zubereitung ist das Kneten des Teiges. Lange muss
er geknetet werden.
„Am Ende des Monats haben die Familien nicht
einmal mehr eine Handvoll Mehl. Dann kriegen die Kinder wirklich nur mehr das
zu essen, was wir hier in der Kantine für sie kochen. Kommen Sie mit, ich zeig‘
es Ihnen.“
Spaghetti mit nichts
In der ehemaligen Dorfkneipe haben die Malteser
den Speisesaal der Schule eingerichtet. In dem
niedrigen Raum hängt der Geruch von trockenem Schlamm und ungewaschenen
Leibern. In Tarnabod ist das Badezimmer kein unverzichtbarer Bestandteil der
Häuser. „Wir haben hier Kinder, die von den Dörflern damit aufgezogen werden,
dass sie im Mutterbauch das letzte Mal mit Wasser in Berührung waren“, erzählt
Piroska, die Küchenhilfe. Hinter dem Pult der Essensausgabe dampft das heutige
Mittagessen in riesigen Kesseln: Bohneneintopf. Mehr Einbrenn als Bohnen. Der
Schöpflöffel bleibt in der braunen Masse stecken. Während Piroska Essen
austeilt, frage ich die Drittklässler, die sich angestellt haben, was sie am
liebsten haben. Zehn Hände schießen in die Höhe: „Tomatensuppe! Äpfel! Topfen!“,
rufen sie. „Ich mag am liebsten Spaghetti!“, sagt ein kleines Mädchen mit
schwarzen Augen. Sie lächelt, als hätte sie mir gerade von einem Streich
erzählt. „Ja und womit?“, frage ich dumm. Sie schielt verwirrt in Richtung der
Lehrerin. „Spaghetti“, flüstert sie wiederum und lächelt.
So viel kann Tarnabod és mi jeder bedürftigen Familie zu Weihnachten geben. Für mehr reicht es nicht. |
Unterwegs zur 13-köpfigen Familie Molnár
bleiben Laci Kovács und ich vorm einzigen Lebensmittelladen im Dorf stehen. Der
Pedell ist einer der wenigen Roma in Tarnabod, die beim Hilfsdienst in
Anstellung sind, er wurde mir vom Direktor als „Fremdenführer“ an die Seite
gestellt. Im Laden gibt es vor allem: Nichts. Und ein wenig Brot, Kartoffeln,
Mehl und Zucker. Einige Tiefkühlhühner zu astronomischen Preisen. „Man erzählt,
der Krämer ist ein Wucherer. So wie alle anderen wohlhabenden Roma in Tarnabod“,
flüstert mir Laci zu, bevor wir ins Geschäft eintreten. Am Ende des Monats,
wenn von den 80 Euro Sozialhilfe, die die Familien erhalten, nichts mehr übrig
ist, gibt es hier Brot auf Pump. Für 2 Euro das Kilo. Der korrekte Preis wären
60 Cent. Für 5-6 kg Hühnerhälse oder Hühnerrücken würde es sich schon lohnen,
in die Stadt zu fahren, wenn die 3-4 Autobesitzer des Dorfes nicht bei den
Mitfahrkosten so sehr wuchern würden. Sie verlangen das acht- bis zehnfache des
Pro-Kopf-Benzingelds.
„Das ist ein Teufelskreis. Die Menschen sind
völlig verbittert.“, meint Laci und kickt einen Kieselstein. Die einzige
asphaltierte Straße der Ortschaft wurde vom Winter zerbröselt. Jedes dritte Haus,
alle sind hier aus Lehm gebaut, ist unbewohnt, jedes fünfte ist in sich
zusammengefallen. Die Dachstühle waren schnell verschwunden und verheizt. „Sie
glauben mir sicher nicht, wenn Sie sich heute hier umsehen, aber vor 30 Jahren
war Tarnabod das reichste Dorf in der Umgebung. Mit geschniegelten kleinen
Höfen, Gärten voller Blumen wie im Märchen. Die Probleme auf dem Land begannen
mit der Wende, nachdem die Landwirtschaftlichen Produktionsgesellschaften
schnell an irgendwelche Leute verschachert wurden. Wir Zigeuner hatten auf
einmal keine Arbeit mehr, keiner brauchte Korbflechter, Putzfrauen, Tagelöhner
oder Maschinenschlosser. Viele von den Betrieben kamen in ausländische Hand.
Die Familienväter sitzen hier seit Jahren schon in der Dorfspelunke und nicht
mehr an ihrem Arbeitsplatz. Oder im Gefängnis.“ Ein Großteil der Eltern hat
nichts gelernt, hat keine Erfahrung, hat keine Ahnung von Behördengängen, wie
man sich Geld einteilt oder Kinder erzieht. Die Kindergartentanten schützen die
Kinder vor der staatlichen Fürsorge wie Tigermütter, doch wenn die Fürsorge sieht,
dass die Kindern nur mehr von Wasser leben, können auch sie nichts mehr tun.
Sie haben Läuse, Krätze, von Kälte und Dreck haben sie offene Stellen im
Gesicht.
„Ach, was für dreckige Geschichten es nicht
gibt“, sagt Laci bitter und macht eine wegwerfende Handbewegung. Selbst er als
Hausmeister hat sich oft schon tagelang mit den kleinen Schülern beschäftigt,
damit sie – nach einem Brief aus dem Gefängnis oder einem Besuch beim Vater
dort – wieder in Ordnung gekommen sind. „Da beginnen wir dann wie wild Bilder auszuschneiden,
zu kleben, allerlei zu basteln; dabei bringen wir sie dazu, sich auszusprechen.
Einmal hatte ein kleiner Junge einen schlimmen Wutanfall. Wir wussten, dass
seine Mutter einige Monate zuvor zum Anschaffen nach Budapest gegangen war.
Dann fanden wir heraus, dass seine Großmutter, die ihn und seine Geschwister
alleine erzog, Krebs hatte. Am Tag bevor er die Schule auseinandernehmen
wollte, musste er zuhören, wie entfernte Verwandte sich stritten, wer die
Vormundschaft für die Kinder übernehmen sollte, wenn dann die Großmutter
gestorben ist.
Hühnerrücken, so viel sie tragen kann
Wir erreichen das Ende des
Dorfes. Die letzte Hütte hier wird nur mehr vom Wind bewohnt. Das Haus, ein
Tatort der Roma-Mordserie, wurde von den inzwischen verurteilten Zigeunerhassern
mit Molotowcocktails beworfen. Es steht leer. Auch die Rentner, die keine Roma
sind, zogen aus der Nachbarschaft fort. Heute leben in Tarnabod nur mehr ein
halbes Dutzend „anständige ungarische Leute“. Wie man Gadschos, also „Nicht-Zigeuner“,
der nationalen Rhetorik entsprechend nennt.
Ilonka Molnár hat in ihrem
Leben noch nie darüber nachgedacht, wie sie eine anständige ungarische Bürgerin
werden könnte. Nach den Kategorien der Rechtsextremen zumindest nicht. Ilonka
Molnár war die letzten 20 Jahre ausschließlich damit beschäftigt, ihren acht
Kindern Essen zu beschaffen. Heute, mit 36, ist ihr größtes Problem, auch die
zwei Enkel, die man ihr anvertraut hat, satt zu kriegen. Das Haus hat keinen
Zaun, keinen Garten: Auf Steinen, die in den Dreck geworfen wurden, balancieren
wir bis zur Tür. Ilonkas Haare sind eigenartig farblos und am Scheitel zu einem
Zopf geflochten. Sie hat keine Zähne. Ihre Augen zeugen davon, dass sie einmal
eine schöne Frau gewesen war.
Drinnen, im „Wohn-Vor-Küchenzimmer“
hat irgendjemand einmal die Wände rot gestrichen. Auf die zersprungenen weißen
Bodenfliesen sind Eierschalen und Zigarettenasche gefallen. Nackte Kindersohlen
machen auf den Fliesen ein klatschendes Geräusch. „Mein Herzchen“, nennt mich
die magere Frau mit einem Lispeln und packt mich bei der Hand. „Ich will nicht
viel von Ihnen, nur sechstausend Forint, damit ich die Gasflasche tauschen
kann. Wie soll ich denn sonst für die Kleinen kochen?“
„Ich bin nicht vom
Hilfsdienst, ich bin eine einfache Mutter, wie Sie, Frau Molnár. Eine Private“,
entschuldige ich mich überflüssigerweise. Es folgt ein einseitiges Gespräch. In
Wirklichkeit ein Monolog. Ilonka gibt nicht auf, sie versucht aus mir
herauszudrücken, was heute möglich ist. Ihr Mann ist das einzige
Familienmitglied, das hier im örtlichen Betrieb Arbeit hat. Für den Mindestlohn:
220 Euro.
„Und dieser starke, fesche
Bursche, warum arbeitet er nicht?“, ich zeige auf einen tätowierten Jungen im
Unterhemd, der vor dem Haus steht und raucht. „Ach, der ist noch jung, gerade
mal 16 vorbei“, meint Frau Molnár und macht eine wegwerfende Handbewegung. „Er
hofiert meine zweitälteste Tochter, Adrienn. Man könnte sagen, er ist ihr Mann“,
kichert sie. „Aber sie sind ja nicht verheiratet. Es kam ein Kind. Hier ist es!“
und sie zeigt auf eines der lockigen Kinder auf dem Boden. Dann ruft sie ins
Zimmer, das durch einen Vorhang getrennt ist. „Adrienn, komm her! Ich will dich
der Frau zeigen. Sehen Sie nur, meine schönste Tochter. Und auch die
gescheiteste. Sie wollte Dings werden. Wie heißt das? Die so im Fernsehen sind.
Sag schon, Adriennchen.“
„Moderatorin“, flüstert
das kleine, zerbrechliche Mädchen, das am Türstock lehnt. Sie schaut auf ihre
Zehen, nicht mir ins Gesicht. Auch sie ist barfüßig, obwohl man heute auch im
Mantel nicht schwitzt. „Sie hat sehr gut gelernt, sagt man. Sie ist begabt.
Kann sehr schön reden. Dann wurde sie schwanger von ihrem Klassenkollegen, dem
Sanyi. Dann musste sie die Schule verlassen. Jeden Nachmittag schaut sie sich
im Fernsehen die Talk-Shows an, damit sie was lernt.“ Doch hat sie noch nie
eine politische Tageszeitung gelesen, wird doch in Tarnabod so etwas nicht
verkauft. Deshalb weiß das 16-jährige Mädchen nicht, dass in anderen
ungarischen Romadörfern von Zeit zu Zeit paramilitärische Einheiten
aufmarschieren, die in ihren schwarzen Uniformen stubenreine Romakinder
erschrecken, die dann wieder bettnässen. Die junge Mutter in Tarnabod hat auch
noch nie vom Journalisten Zsolt Bayer gehört, einem Mitglied der
Regierungspartei Fidesz, einem guten Freund des Ministerpräsidenten Viktor
Orbán, der vor einigen Monaten einen Teil der ungarischen Roma als Tiere
bezeichnete. Er meinte, es wäre an der Zeit, sie aus der Gesellschaft
auszuschließen, praktischer wäre jedoch, sie von der Erde zu tilgen.
Adrienn Molnár möchte leben. Sie möchte nur
dieses eine Kind haben, sagt sie. Weiter in die Schule gehen. Dann das
Moderatorenhandwerk lernen. Sie würde viel Geld verdienen und einmal ihrer
Mutter so viele Hühnerrücken nach Hause bringen, wie sie nur tragen kann.
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„Weg mit den Romakindern!”
Die großen Verlierer der
Wende in Ungarn sind jede 20-30-jährigen Roma – ein großer Teil der erwachsenen
Bevölkerung Tarnabods –, die um 1989 zur Welt gekommen sind. Das kommunistische
Regime unter János Kádár hatte ihre Eltern auch nicht sonderlich unterstützt,
dennoch gab es immer Hilfsarbeiten in Betrieben, Bergwerken, auf dem Bau. Nach
der „Wende“, war es auch mit diesen bescheidenen Möglichkeiten vorbei. Die
traditionellen „Zigeunerberufe“ waren schon viel früher, im Kommunismus,
verboten worden. Die jetzige, junge Elterngeneration hat ihre Eltern nur mehr
selten zur Arbeit gehen gesehen, deshalb gibt es auch kein Muster, dem sie
folgen könnte. Lernen hatte in diesen Familien nie Tradition, auch Landwirtschaft
nicht. Mit dem Heraufziehen der Demokratie begann die Höllenfahrt der
ungarischen Roma. Und sie setzt sich bis heute fort, nachdem ein großer Teil
der verarmenden und sich radikalisierenden Mehrheitsgesellschaft die
Romafamilien, die traditionell viel Kinder haben, für fast alle Probleme
verantwortlich macht. Man fordert sogar die Zwangssterilisation von Romafrauen.